MEDIENPREIS HIVAIDS 2015/2016

Michael Neudecker
für seinen Print-Beitrag „Reifeprüfung“, Süddeutsche Zeitung (Die Seite Drei), 01.06.2015

Laudatio von Prof. Dr. Elisabeth Pott,

Corinne ist 20 – und HIV-positiv. So lange sie denken kann, hat sie mit dem Virus gelebt. Doch außer ihrer Pflegefamilie wusste fast niemand in dem kleinen oberbayerischen Dorf Grassau davon. Es schien nicht ratsam, darüber zu reden.

Doch dann bricht sie ihr Schweigen. Und sie erlebt, dass sich für ihre Freunde eigentlich nichts ändert. Auch für sie bleibt Corinne Corinne.

Michael Neudeckers Text trägt die vielsagende Überschrift „Reifeprüfung“.
Dabei geht es ihm nicht nur um Corinnes Reifeprüfung und um ihr Outing.
Er geht auch der Frage nach, was die Worte HIV und AIDS bei den Menschen auslösen – im Jahr 2015 in Deutschland.

Neudecker ist mit seiner Geschichte über Corinne eine Reportage gelungen,

  • die aufklärt ohne zu belehren,
  • die berührt ohne kitschig zu sein.

HIV mag kein medizinisches Drama mehr sein. Aber für viele ist es immer noch ein soziales. Corinnes persönliches Drama aber hat ein Happy End. Nicht nur deswegen findet die Jury Neudeckers Text besonders lesenswert. Wie nebenbei blickt der Autor auch auf mehr als 30 Jahre mit HIV und AIDS zurück.

2015, so sein Fazit, ist vielleicht nicht ganz frei von Vorurteilen. Doch zumindest die Menschen in seiner wahren Geschichte haben die Reifeprüfung bestanden.

Der Jury und uns war es eine große Freude, einen journalistisch extrem gut gemachten Beitrag zu lesen, der nahezu zwingt, von der ersten bis zur letzten Zeile „dran zu bleiben“.

Maike Conway
für ihre Langzeit-Dokumentation „Corinnes Geheimnis“, ZDF (Das kleine Fernsehspiel), 08.12.2015

Laudatio von Prof. Dr. Elisabeth Pott,

Maike Conway hat Corinne 10 Jahre lang begleitet – von ihren Kindheitsjahren an bis zum Abitur. Die Filmemacherin zeigt uns in einer vielfältigen Nahbetrachtung ein schwieriges Leben in der Provinz: einen Alltag mit Schweigen – ein fortwährendes Verstecken – die Angst vor Stigmatisierung. Wenn Corinne bei einer Freundin übernachtet, nimmt sie ihre Medikamente heimlich. Die Autorin lässt die Konfliktsituation immer wieder deutlich werden – führt die bedrückende Situation im wahren Sinn des Wortes vor Augen. Auch Wut und Aggression werden zum Thema.

Und dann zeigt Maike Conway Corinnes Bekenntnis – den Weg in die Offenheit und zu einem selbstbestimmten Leben. Die junge Frau öffnet sich einem Freund gegenüber. Diese Situation ist von einer Intimität, wie man sie selten vor der Kamera erleben kann.

Maike Conway bringt uns Corinne in all ihren Facetten nah: Wir leiden mit ihr. Wir bewundern die tapfere Haltung – und schließlich den Mut. Der Film macht sowohl die Probleme als auch die Notwendigkeit eines offenen Umgangs mit der Infektion deutlich.
– Er ist zugleich ein gesellschaftliches und ein persönliches Porträt.

Die Autorin verzichtet auf einen Kommentar. Sie setzt ganz auf die Aussagekraft der Szenen und Originaltöne. Gerade darüber kommt der Film so nah – wirkt er so intim.

Maike Conway ist den so seltenen wie bewundernswerten Weg einer Langzeitdokumentation gegangen – dies mit einem großen Risiko. Es war nicht klar, dass sie nach 10 Jahren aufwändiger filmischer Arbeit Corinnes Einverständnis für eine Veröffentlichung erhält.
Letztendlich stehen Corinnes Mitwirkung und Einverständnis für ein Bekenntnis, das tief berührt und weit über den Film hinausweist.

Das Team von PULS (das junge Programm des Bayerischen Rundfunks) – Teresa Fries, Christina Metallinos, Lukas Hellbrügge, Ariane Alter, Heike Schuffenhauer, Sebastian Meinberg
für den Beitrag „Positiv zusammen leben“, Magazin „PULS im Fernsehen“, BR Fernsehen, 01.12. 2016 (abrufbar unter deinpuls.de)

Laudatio von Prof. Dr. Elisabeth Pott,

Jugendliche mit dem Thema HIV zu erreichen, ist heute definitiv nicht leicht. Aber ein junges Redaktionsteam hat bewiesen, dass es doch gelingen kann – mit einem Beitrag, der nicht aufklärerisch daher kommt und dennoch solide informiert.
Die Jury war schnell überzeugt, dass das PULS-Team vom jungen Programm des Bayerischen Rundfunks für „Positiv zusammen leben“ den Medienpreis verdient hat.

Der Film, ausgestrahlt am vergangenen Welt-AIDS-Tag, zeigt sehr umfassend das Leben mit HIV heute. Angesprochen werden aktuelle Themen wie PrEP, Schutz durch Therapie und die Behandelbarkeit bei möglichst früher Kenntnis einer HIV-Infektion. Alles ist sehr unaufgeregt und gut verständlich geschildert – ohne wertend zu sein. Der Beitrag lässt junge Menschen mit HIV zu Wort kommen und macht deutlich, dass ein nahezu normales Leben und eine Partnerschaft mit HIV möglich ist, und ein positives Testergebnis heute alles andere als das Ende bedeutet.

Gleichzeitig verschweigt der Beitrag aber nicht die negativen Aspekte einer Infektion wie Diskriminierung und Stigmatisierung. Der Zuschauer geht mit Moderatorin Ariane Alter zum HIV-Test. Neben den Fakten rund um den Test wird auch klar: Anspannung, Nervosität und auch Angst sind stille Begleiter.

Die Kameraführung ist schnell und frech, man würde sagen „zielgruppengerecht“. Es ist ein zeitgemäßer und sehr gelungener Beitrag, der genau die jungen Menschen wachgerüttelt hat, für die der Beitrag gedacht war.

„Toller Beitrag! Ist eigentlich schade, dass ein 13-minütiges Video mehr bringt als der Sexualkunde- Unterricht. Ich wusste gar nicht, dass ein behandelter HIV-Infizierter das Virus nicht mehr übertagen kann …“ oder „Wie immer eine Top Doku, schäme mich gerade, dass ich gedacht habe, dass HIV und AIDS dasselbe ist …“ waren nur zwei Kommentare aus dem Netz.

Wir empfehlen den Beitrag allen, die Lust haben auf einen „jungen“ Film, aus dem man viel über „HIV heute“ erfahren kann – das Alter ist dabei egal!

Mit dem Medienpreis ehren wir das gesamte PULS-Team:
Teresa Fries und Christina Metallinos (Planung und Recherche)
Lukas Hellbrügge (Autor, Kameramann und Cutter)
Reporterin Ariane Alter
Heike Schuffenhauer (Chefin vom Dienst) und
Teamchef Sebastian Meinberg.

Johannes Nichelmann
für seinen Radio-Beitrag „Drogenpolitik – Portugals liberaler Weg“, Deutschlandfunk (Sendung „Hintergrund“), 17.04.2016

Laudatio von Prof. Dr. Elisabeth Pott,

Es ist schon einige Jahre her, dass Jury und Stiftung den Medienpreis für einen herausragenden Hörfunkbeitrag vergeben konnten. Umso mehr freuen wir uns heute! In seinem Beitrag lenkt Johannes Nichelmann den Blick auf Portugal und seine ungewöhnlich liberale Drogenpolitik. Er gibt darüber hinaus einen Anstoß für ähnliche Reformen in anderen Ländern – die freilich spezifisch angepasst werden müssten.
Die Essenz der portugiesischen Drogengesetze, die bereits seit 2001 in Kraft sind, ist:
„Der persönliche Besitz von Rauschgift ist keine Straftat mehr, sondern eine Ordnungswidrigkeit. Harte Drogen wie Heroin und Kokain dürfen konsumiert werden. Die Drogen wurden entkriminalisiert. Statt des Justizministeriums ist das Gesundheitsministerium für das Thema zuständig.“ Die liberale Gesetzgebung wird flankiert von bedachter Prävention. Die Maßnahmen haben zum Ende der Stigmatisierung und Ausgrenzung geführt – und zu einer deutlichen Abnahme der Infektionen mit dem HI-Virus. So heißt es im Beitrag:
„2007 standen noch 20 Prozent der … Neudiagnosen in Portugal im Zusammenhang mit Drogen. 2014 waren es nur noch vier Prozent.“

Johannes Nichelmanns Radiobeitrag ist abwechslungsreich und informativ gestaltet. Er bindet immer wieder Personen ein – von der Sozialarbeiterin bis hin zum Nutzer des Methadonprogramms. Auf diese Weise macht er anschaulich und hörenswert klar, wie der portugiesische Weg in der Praxis aussieht. Johannes Nichelmann bringt auf verständliche Weise ein Thema nahe, das in der öffentlichen Debatte über HIV und AIDS vernachlässigt ist, aber internationale Aufmerksamkeit verdient. Portugals liberaler Weg hat Vorbildcharakter.

SONDEREHRUNG


Bernd Aretz
für seine jahrzehntelange, kontinuierliche publizistische Tätigkeit zu HIV und AIDS

Laudatio von Prof. Dr. Elisabeth Pott,

Sehr gerne und aus großer Überzeugung hat sich die Jury dem Vorschlag der AIDShilfe Marburg angeschlossen, einen Menschen zu ehren, der seit Jahrzehnten publizistisch zu HIV und AIDS aktiv ist. Wir freuen uns sehr, lieber Bernd Aretz, dass Sie heute hier sind!
Vor 20 Jahren erschien ein Buch, das in vielen Feuilletons besprochen wurde. Der Titel: „Notate. Aus dem Leben eines HIV-infizierten schwulen Mannes“. Die autobiographischen Notizen waren teils sehr intim und schonungslos, sie stammten von Bernd Aretz. Das Buch, so schrieb die FAZ, transportiere eine doppelte Botschaft: ein lautes, überzeugtes Ja zum Leben mit dem HI-Virus und ein leises, gefasstes Ja zum Sterben an AIDS. Das war 1998.

Bernd Aretz, Jahrgang 1948, hat in 33 Jahren mit HIV viele Tiefs und zuletzt auch viele Hochs erlebt. Im Hauptberuf war Aretz Anwalt und Notar in Offenbach, nebenberuflich aber war und ist er Aufklärer, Lebenshelfer und Mutmacher.

Seit er von seiner Infektion weiß, hat er sich immer wieder zu Wort gemeldet, um über seine Erfahrungen mit HIV zu berichten. Er ist zum Vielschreiber geworden und vor allem online sehr präsent – auf Plattformen wie den HIV-Nachrichten, Ondamaris und Magazin.hiv der Deutschen AIDS-Hilfe. Er greift auf, was ihm wichtig erscheint und was wichtig ist, seine Texte sind stets fundiert, mal kritisch, mal provokant, doch nie am Thema vorbei.
Er reflektiert Erfahrungen, die er am eigenen Leib gemacht hat, ohne sich dabei narzisstisch in den Mittelpunkt zu stellen.

Respekt für ein publizistisches Lebenswerk, das über die zahlreichen Veröffentlichungen zu HIV/AIDS in Fach- und Publikumsmedien noch weit hinausgeht.
Für seine langjährige Arbeit zeichnet die Jury in diesem Jahr Bernd Aretz mit dem Medienpreis der Deutschen AIDS-Stiftung aus – für sein Lebenswerk, das hoffentlich noch lange nicht vollendet ist.