MEDIENPREIS HIVAIDS 2017/2018

Birgit Wittstock

Birgit Wittstock
für ihre Langzeitrecherche „Philipp, 35, positiv“ und „Philipp, A. und ich“, FALTER (Wien), Ausgaben 17/18 und 22/18

(Foto: Hendrik Lüders, Hamburg)

Laudatio von Jessica Stockmann,

„Philipp hat mich einen Blick in sein Leben mit HIV werfen lassen.
Seither ist das Virus auch mir näher gerückt.“

In diesen Sätzen steckt der Kern der Langzeitrecherche „Leben mit HIV“.

Birgit Wittstock erzählt in der Ich-Form zwei Geschichten in einer. Sie nimmt uns mit in das Leben eines heterosexuellen Mannes, der das Pseudonym Philipp Spiegel benutzt – HIV-positiv, Künstler und Fotograf. Und sie nimmt uns mit zu sich selbst.

Als sich die Autorin das erste Mal mit ihm trifft, weil sie einen Protagonisten für eine Story anlässlich „25 Jahre Life Ball“ sucht, hat sie schon über Philipp gelesen. Über seine Infektion, sein Leben, seine Sexualität. Birgit Wittstock trifft sich über Monate hinweg regelmäßig mit ihm und hört ihm zu. Sie begleitet ihn in seinem Alltag und stellt ihm Fragen.

Die größte Frage stellt sie sich aber schnell selbst:
„Wie lebe ich und all die anderen, die nicht das Virus tragen, mit HIV?“

All die anderen – das sind unweigerlich auch die Leserinnen und Leser.

Sie können sich sehr gut in die Autorin hineinversetzen. Und so beim Lesen die eigene Denkweise zu HIV kritisch hinterfragen. Das ist lehrreich und entlarvend zugleich.

Zum Beispiel, wenn Birgit Wittstock beschreibt, wie sie ihre erste E-Mail an Philipp Spiegel unzählige Male umtextet – unsicher, wie sie in ansprechen soll. Dass sie fürchtet, sich nicht „richtig“ zu verhalten, ihren Gesprächspartner zu verletzen. An einer Stelle schreibt sie: „Ich hatte Angst davor, dass Philipp gewisse Reaktionen als Berührungsängste interpretieren könnte. Angst vor sozialem Aids, der schlimmsten Begleiterscheinung von HIV“.

Die Autorin lässt uns teilhaben an ihren eigenen Gefühlen, aber sie lässt uns auch den Protagonisten kennenlernen. Mit seiner Krankheit, seinen Hoffnungen und Ängsten. Und wir erfahren, was Philipp am meisten geholfen hat. Der Satz einer positiven Freundin: „Ich bin nicht krank – ich trage einen Virus in mir“. Am Tag, als Birgit Wittstocks erster Artikel erscheint, wird A., ein guter Freund der Autorin, positiv getestet. Sie schreibt: ich bin dankbar für die vergangenen Monate, in denen mich Philipp auf den Umgang mit HIV vorbereitet hat.

Beide Texte von Birgitt Wittstock „Philipp, 35, positiv“ und „Philipp, A. und ich“ erschienen 2018 in er Wiener Wochenzeitung „Falter“. Obwohl es um viel Persönliches geht, vermeidet Birgit Wittstock ausschließlich um Befindlichkeiten zu kreisen.

Beim Lesen erfahren wir – mit der Autorin zusammen – sehr viele Sachinformationen. Zum Beispiel über den HIV-Test, wie die Medikamente wirken, dass positive, therapietreue Menschen mit einer Viruslast unter der Nachweisgrenze nicht mehr ansteckend sind, dass es PEP und PrEP gibt.

Die Jury war von den Texten außerordentlich überzeugt.

Florian Winkler-Ohm

Florian Winkler-Ohm
für seinen Blog flosithiv.com

(Foto: Hendrik Lüders, Hamburg)

Laudatio von Jessica Stockmann,

Einige von ihnen, liebe Gäste, dürften unseren nächsten Preisträger kennen.
Er ist das „Gesicht einer Kampagne“ [„Ich weiß was ich tu“]. Aber nicht nur.
Man begegnet ihm auch bei Konferenzen – wie dieser –, bei Positiven-Treffen und dort, wo Menschen zusammenkommen, die sich über HIV austauschen.

Florian Winkler-Ohm, Journalist und HIV/Drogen-Aktivist, ist viel unterwegs.
Auch, um – so schreibt er in seiner Bewerbung – „die Community und am Thema interessierte Menschen an den Infos von großen Konferenzen teilhaben zu lassen. Locker und in verständlicher Sprache“.

Dazu betreibt Florian Winkler-Ohm den Blog flosithiv.com.
Die Jury zeichnet diesen Blog heute mit dem Medienpreis HIV/Aids aus.

In der Begründung der Jury heißt es:
Florian Winkler-Ohm berichtet in seinem Blog flositihiv.com seit Jahren über alle relevanten aktuellen Themen und über Veranstaltungen der HIV-Szene. Er reist zu den wichtigsten Kongressen wie der Welt-Aids-Konferenz, dem DÖAK, den Positiven Begegnungen, um darüber zu berichten. Florian Winker-Ohm führt Interviews vor der Kamera mit Fachleuten genauso wie mit Aktivistinnen – immer auf neugierige Art. Er nimmt Podcasts auf und er schreibt, vielfältig in der Aufbereitung und den Themen. Dabei sind seine Beiträge lebendig und sie sind kurzweilig.

Florian Winkler-Ohm zeigt aktuelle Fakten. Und, was Menschen mit HIV und die von HIV am stärksten betroffenen Gruppen gerade bewegt. Damit wurde er zum Sprachrohr für viele Menschen mit HIV und für ihre Themen, wie Schutz durch Therapie, PreP, Chem-Sex oder Diskriminierung im Gesundheitswesen.

Sein Blog ist aktuell, kritisch und engagiert. Ohne zu verharmlosen, einseitig zu sein oder zu dramatisieren.
Mit seinem Blog leistet Florian Winkler-Ohm deshalb einen wichtigen Beitrag zur Ent-Stigmatisierung von HIV und zum Abbau von Diskriminierung.

martin reichert

Martin Reichert
für sein Buch „DIE KAPSEL. Aids in der Bundesrepublik“, Suhrkamp Verlag Berlin, 2018

(Foto: David Ertl)

Laudatio von Jessica Stockmann,

Die Kapsel gehört für viele tausend Menschen in Deutschland zum Alltag. Sie ist überlebenswichtig, ist Hoffnung, kann Schutz sein.

In einem Buch, das die Stiftung heute Abend mit dem Medienpreis auszeichnet, geht es aber um die Menschen (wie Michael Westphal), die vor den Präventionsbemühungen und vor der Entwicklung effektiver Kapseln mit HIV und Aids leben mussten.

„Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik“ von Martin Reichert widmet sich der Aufarbeitung der HIV/Aids-Geschichte. Vorwiegend aus der Perspektive schwuler Männer.

„Warum haben die Älteren nie etwas erzählt über die Zeit der Aids-Krise?“ fragt Martin Reichert in seinem Nachwort. Seine Antwort: „Weil niemand gefragt hat, auch ich nicht.“
Martin Reichert hat das Fragen – für sich, aber auch für uns – nachgeholt. Herzlichen Dank!

Was die Menschen ihm in vielen Interviews über die verschiedenen Epochen, über Meilensteine und Perspektiven der HIV/Aids-Bewegung erzählt haben, ist absolut lesenswert!

In Martin Reicherts Buch entsteht ein differenziertes Bild über die Besonderheit dieser Zeit. Zum Beispiel über die Modelhaftigkeit der HIV Prävention, der Pflege Schwerstkranker, der Hospizbewegung. Die Interviewpartner berichten insbesondere aus den dramatischen Jahren der Aidskrise: authentisch, subjektiv und zum Teil sehr bewegend.

Martin Reichert bleibt aber nicht in der Vergangenheit. Vielmehr beschreibt er auch das Leben mit HIV heute. Den Wunsch der Jüngeren nach einer Sexualität, die nicht automatisch nach Gesundheit fragt, die wieder unbeschwerter sein kann.
Er spricht über Schutz durch Therapie und die damit gewonnenen Freiheiten.

Das Buch kann helfen, die Lücke zwischen der Lebensrealität der älteren und jüngeren Positiven zu schließen. Es kann als ersten Schritt der Aufarbeitung gesehen werden und kann vielleicht mehr Menschen motivieren, sich mit der verlustreichen, bewegenden aber auch einmaligen Geschichte dieser gesellschaftlichen Bewegung auseinanderzusetzen und sie aufzuschreiben. Oder wie Martin Reichert Fragen zu stellen, an die, die bisher nur nicht gefragt wurden.

Martin Reichert hat die Jury besonders überzeugt: durch seine journalistische Leistung, seine Recherche und die Themenbreite des Buches. Das Buch ist schon jetzt so etwas wie ein „Handbuch“ zu „Aids in der Bundesrepublik“.

Herzlichen Glückwunsch zu „Die Kapsel. Aids in der Bunderepublik“, erschienen 2018 im Suhrkamp-Verlag.

Martin Reichert, Autor, aber auch taz-Journalist, ist gerade auf einer Journalistenreise, und kann deshalb nicht bei uns in Hamburg sein. Für ihn nimmt heute

Dr. Thomas Sparr
den Preis entgegen. Herzlich Willkommen.

Ohne Sie, Herr Dr. Sparr, hätte es das Buch gar nicht gegeben, sagte uns Martin Reichert. Sie sind „Editor at Large“ beim Suhrkamp-Verlag und haben das Buchprojekt angestoßen.
Es geht auf Ihre Initiative zurück, dass „Die Kapsel“ erschienen ist, und dass Martin Reichert das Buch geschrieben hat.

Wer, wenn nicht Sie, wäre der Richtige, um den Preis entgegen zu nehmen.
Wir danken Ihnen herzlich, dass Sie da sind!